»Vom Horten zum Kreislauf, von der Unabhängigkeit zur Interdependenz, vom Verwunden zum Heilen; nur so können wir auch in Zukunft gedeihen.«
(Robin Wall Kimmerer)
Verborgene Fäden menschlicher Kultur
Wenn wir den Blick schärfen erkennen wir, dass viele Bräuche menschlicher Kultur über Ozeane und Kontinente hinweg auf eine bestimmte Art miteinander verwoben sind.
Sie erzählen alle von einer tiefen, universellen Wahrheit, die in unterschiedlichen Formen Ausdruck findet.
Sie erzählen von Verbundenheit und Balance, von sowohl-als-auch anstelle von entweder-oder, von menschlichem Verwoben sein in einer mehr-als-menschlichen Welt, von reziproken und zyklischen Abläufen und von dem Bewusstsein, dass jede Gabe auch eine Verantwortung mit sich bringt.
Zwei solcher Ausdrucksformen, die auf den ersten Blick weit voneinander entfernt liegen, sind das Potlatch der indigenen Völker Nordamerikas und unsere eigenen, ursprünglichen Erntedankfeste hier in Mitteleuropa und in unserer Landschaft entlang der nahrhaften Flüsse, wie zum Beispiel der Donau hier in meinem zu Hause.
Sowohl Potlatch als auch Erntedank sind mehr als nur Feste; es sind rituelle Räume, in denen das In-der-Welt-Sein zu einem Zu-Hause-Sein wird.

Das Potlatch: Großzügigkeit als zentrales Prinzip
Das Potlatch ist eine machtvolle Zeremonie, ein soziales und spirituelles Gewebe, das auf Großzügigkeit geknüpft ist.
Hier wird Reichtum nicht durch Anhäufen, sondern durch das Verschenken definiert. Es ist ein Akt der Verteilung, eine Feier der Fülle, bei der Gaben fließen, um soziale Bindungen zu stärken, Status zu festigen und die Gemeinschaft als Ganzes zu nähren.
In diesem Ritual wird der Reichtum der Erde nicht als Privateigentum betrachtet, sondern als ein Segen, der im Kreislauf des Gebens und Nehmens weiterfließen muss. Das Potlatch verwandelt die Welt in einen verlässlichen Ort, indem es die Verbundenheit über den Besitz stellt.

Der ursprüngliche Geist des Erntedankfestes
Wenn wir den Blick auf unsere eigenen Wurzeln richten, entdecken wir im ursprünglichen Erntedankfest eine ähnliche Intention.
Viele unserer alten Bräuche, wenn wir sie weit genug zurückverfolgen und von Überlagerungen der Herrschaftskultur und von patriarchalen Machtstrukturen befreien, erzählen von einem Leben im zyklischen Verwoben sein mit der mehr-als-menschlichen-Welt.
So war auch unser Erntedank-Fest ein Moment tiefster Dankbarkeit gegenüber der Erde und der Gemeinschaft.
Es war der Höhepunkt des Jahreskreises, an dem die Früchte der gemeinsamen Arbeit nicht nur gezählt, sondern eben auch geteilt wurden.
Man dankte nicht nur für die Ernte, sondern feierte die Gewissheit, dass die Gemeinschaft durch den Winter kommen würde, weil man füreinander sorgte. Die Fülle des Herbstes wurde zum Symbol für die Stärke des sozialen Netzes.
Auch hier ging es darum, die Lebendigkeit des großen Ganzen zu vermehren.

„Dankbarkeit ist der Samen der Fülle“
Verbundenheit und Gegenseitigkeit
Sowohl Potlatch als auch die ursprünglichen Bräuche rund um Erntedank, entspringen einem Bewusstsein, das den Menschen nicht als von der Natur getrenntes Wesen sieht. Sie sind Teil der Landschaft, in der sie leben, und die Landschaft ist Teil von ihnen. In diesem Verständnis ist Großzügigkeit keine moralische Entscheidung, sondern eine natürliche Konsequenz der Verbundenheit.
Die Botanikerin und indigene Autorin Robin Wall Kimmerer beschreibt diesen Kreislauf der Gegenseitigkeit mit eindringlichen Worten:
„Wie großzügig überschütten sie (die Pflanzenwesen, Anm.LF) uns mit Nahrung, geben sich buchstäblich selbst hin, damit wir leben können. Doch durch das Geben wird auch ihr Leben gesichert. Unser Nehmen bringt ihnen im Kreislauf des Lebens Nutzen zurück, das Leben schafft, die Kette der Gegenseitigkeit. Nach den Grundsätzen der ehrenvollen Ernte zu leben – nur das zu nehmen, was gegeben wird, es gut zu nutzen, dankbar für das Geschenk zu sein und das Geschenk zu erwidern.“„Wie großzügig überschütten sie (die Pflanzenwesen, Anm.LF) uns mit Nahrung, geben sich buchstäblich selbst hin, damit wir leben können. Doch durch das Geben wird auch ihr Leben gesichert. Unser Nehmen bringt ihnen im Kreislauf des Lebens Nutzen zurück, das Leben schafft, die Kette der Gegenseitigkeit. Nach den Grundsätzen der ehrenvollen Ernte zu leben – nur das zu nehmen, was gegeben wird, es gut zu nutzen, dankbar für das Geschenk zu sein und das Geschenk zu erwidern.“
Die Kogi, ein indigenes Volk Kolumbiens, sagen über Rituale der Dankbarkeit:
„Die Darbringung von Dank richtet sich nicht an die Bäume, die uns ernähren, sondern an den Baum, an den Ort, der Wissen hütet und uns nicht direkt ernährt.“
So wird Dankbarkeit nie zu einem Gegengeschäft oder einer Verhandlung, sondern zu einer feinstofflichen Verbindung.
Aus dem Ausgleich und der Dankbarkeit wachsen die Früchte, die uns nähren.
„Nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern die Dankbarkeit ist es, die uns glücklich macht.“ (David Steindl-Rast)
Einladung zur Reflexion: Rituale als Weg zur Verbundenheit
Potlatch und unser alter Brauch des Erntedank erinnert und daran, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind – ein Ganzes in einem Ganzen, das wiederum Teil eines noch größeren Ganzen ist.
In unserer modernen Welt, die oft von Naturvergessenheit und dem Streben nach individuellem Besitz geprägt ist, ist einiges aus der Balance geraten. Wir sind eingeladen, über unsere eigene Beziehung zur Fülle, zur Gemeinschaft und zu unseren menschlichen Gaben nachzudenken.
Mit dem Ritual rund um die Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche und dem Erntedank wollen wir dem auf die Spur kommen.
„Rituale sind wie Orte der Setzung, an denen eine bewusste Hinwendung stattfinden kann – eine Hinwendung zu uns selbst, zueinander und zu der Erde, die uns alle nährt.“
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