Rituale in der heutigen Zeit

Zwischen Ritual und Vision: Eine Reise zu den Quellen der Wandlung

„Das sind Rituale in ihrem besten Sinn: Kunstwerke des Augenblicks.“

Wir leben in einer Zeit, in der Worte wie „Ritual“ und „Vision“ allgegenwärtig scheinen. Wir sprechen von morgendlichen Ritualen, wenn wir unsere Gewohnheiten meinen, und von Unternehmensvisionen, die oft nicht mehr als strategische Ziele sind.

Doch in dieser alltäglichen Verwendung verlieren die Begriffe ihre ursprüngliche Tiefe und ihre transformative Kraft. Was also verbirgt sich wirklich hinter einem Ritual?

Und was unterscheidet eine echte Vision von einer bloßen Idee?

Begeben wir uns auf eine Spurensuche, die uns durch die Schichten der Kulturgeschichte zu den Urquellen menschlichen Erlebens führt.

„Rituale helfen uns, das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein zu verwandeln. Sie schaffen Räume, in denen wir uns mit uns selbst, miteinander und mit dem Größeren verbinden können.“

Das Wesen des Rituals: Mehr als nur Gewohnheit

Eine Gewohnheit ist noch kein Ritual.
Selbst eine wiederholte, rituelle Handlung muss nicht zwangsläufig ein Ritual im tieferen Sinne sein.
Ein echtes Ritual ist ein „heiliger Akt“, der die Trennung zwischen der profanen, alltäglichen Welt und der sakralen, bedeutungsvollen Welt aufhebt.
Es ist ein bewusster Übergang, eine Brücke von einem Zustand in einen anderen.
Die zentrale Frage lautet stets: „Von wo nach wo bewegen wir uns?“
Zeremonien hingegen dienen oft der Bekräftigung einer bestehenden Ordnung.
Sie bestätigen und festigen, während das Ritual auf Wandlung abzielt.
Das Ritual schafft einen offenen Raum, in dem Veränderung geschehen kann, ohne dass das Ergebnis von vornherein feststeht.
Ein Ritual ist ein inszenierter Handlungskomplex, der aus verschiedenen rituellen Handlungen – den kleinsten Einheiten – besteht und immer auf Transformation ausgerichtet ist.

Diese Definition grenzt das Ritual klar von der reinen Gewohnheit oder gar dem Zwang ab.
Die heutige Begriffsverwirrung rührt daher, dass Disziplinen wie die Ethnologie, Psychologie und Verhaltensforschung den Begriff übernahmen und ihn für ihre Zwecke adaptierten, was zu einer zunehmenden Verwässerung führte.

Die Schichten der Geschichte und der Blick des Forschers

Um die wahre Bedeutung von Ritualen zu erfassen, müssen wir in die Geschichte blicken, die wie in der Archäologie aus Schichten besteht. Jede Epoche hat ihre eigene Wahrheit und ihr eigenes Weltbild hinterlassen. Es genügt nicht, bei einer Schicht stehen zu bleiben und zu verkünden: „So war es, so ist der Mensch.“ Die entscheidende Frage lautet: „Wie ist es geworden?“

Wir kommen aus einem zyklischen, in die Natur eingebetteten Weltbild, das schrittweise von einem dualistisch-herrschaftlichen Denken abgelöst wurde – einem Weltbild der Trennung. Diese kulturelle Entwicklung spiegelt sich auch in der Erforschung und Umdeutung von Ritualen wider.

Der Begriff „Ritual“ selbst entstammt nicht einer alten Stammeskultur, sondern der jungen Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Forscher wie William Robertson Smith untersuchten sogenannte „heidnische“ Hintergründe und waren geprägt von einer evolutionistischen Sichtweise, die schriftlose Kulturen abwertete. Diese Perspektive, die heute als überholt gilt, sah eine Entwicklung von der „primitiven“ Magie zur „höchsten“ Stufe der Wissenschaft.

Wir müssen also nicht nur das Forschungsmaterial, sondern auch den Forschenden selbst in seinem historischen und kulturellen Kontext betrachten. Die ersten Ethnologen waren oft christliche Missionare, deren Blick auf das „Fremde“ von einer tiefen Abwertung des „Wilden“ und „Heidnischen“ geprägt war. Später waren es fast ausschließlich männliche, eurozentrische Forscher, die ihre eigene Perspektive als universellen Maßstab anlegten. Erst die feministische Forschung schärfte das Bewusstsein dafür, dass es keine objektive Forschung geben kann und dass bisherige Studien oft undifferenziert matriarchale, egalitäre und patriarchalische Gesellschaften in einen Topf warfen.

Die wandelbare Funktion von Ritualen

In frühen Stammeskulturen dienten Rituale der Einbettung des Menschen in den Kosmos und den Rhythmus der Jahreszeiten.

Sie waren sozial stabilisierend und stellten eine Balance her. Es ging nicht darum, die Natur zu beherrschen, sondern sich in eine größere, den Menschen übersteigende Ordnung einzufügen.

Joseph Campbell beschreibt dies treffend, indem er das Individuum als Organ der Gruppe und die gesamte Menschheit als Phase eines kosmischen Riesenorganismus sieht. Sich in das Unabwendbare fallen zu lassen, sich dem Fluss des Lebens anzuvertrauen – das war der Kern.

Mit der Entstehung von Herrschaftsstrukturen veränderte sich die Funktion von Ritualen grundlegend. Sie wurden nun zur Legitimierung und Stabilisierung von Macht eingesetzt. An die Stelle der Einfügung in eine kosmische Ordnung trat die Unterwerfung unter eine herrschaftliche Ordnung. Die spirituelle Dimension, der Bezug auf etwas Größeres, schrumpfte und wurde für den Eigennutz der Herrschenden verformt. Ein Priester, der ein Gelübde für ein spirituelles Leben ablegt, gelobt gleichzeitig lebenslangen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie.

Auch das Theater, ursprünglich aus dem Ritual geboren, spiegelt diese Entwicklung wider. Das Wort „Theater“ stammt vom griechischen „en theos“ – „aus dem Göttlichen“.

Im ursprünglichen Ritualtheater waren alle Beteiligten involviert.

Später kam es zur Trennung von Publikum und Akteuren.

Dennoch wussten die Zuschauer im antiken Griechenland genau, was geschehen würde, da die Stücke auf bekannten Mythen basierten.

Sie kamen nicht, um unterhalten zu werden, sondern um durch die Identifikation mit dem Helden eine Katharsis, eine Reinigung der Seele, zu erfahren.

Die Natur der Vision

Ähnlich wie der Ritualbegriff wird auch das Wort „Vision“ heute inflationär gebraucht. Es ist zu einem Schlagwort für persönliche Ziele und Geschäftsstrategien verkommen. Doch eine echte Vision ist etwas gänzlich anderes. Sie entstammt dem Lateinischen „videre“ – sehen, schauen, erkennen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung ist sie eine göttliche Erscheinung, eine Schau des universellen Seins.

Eine Vision ist ein Geschenk, eine Gnade. Sie wird nicht vom Ego erdacht, sondern von der Seele geschaut. Der Medizinmann Lame Deer sagt, eine Vision sei eine Eingebung, die von nächster Hand gegeben wird und nicht gemacht werden kann. Weil sie aus dieser tiefen Quelle stammt, kann sie niemals nur für die eigene Person gelten. Sie hat immer eine richtungsweisende und heilende Wirkung auf die gesamte Gemeinschaft.

Eine wahre Vision ist das, was man sich sehnlichst wünscht und worüber man erschrickt, wenn man es bekommt. Sie ist ein Dienst. Wer sich wirklich auf sie einlässt, leidet an ihr und wächst zugleich weit über sich hinaus. Wer seine Wahrheit lebt, stößt unweigerlich Wandel in seiner Umgebung an – ein Prozess, der Mühe macht und Zeit braucht.

„Ein Ritual ist wie ein Gefäß, das wir gemeinsam mit Bedeutung füllen. Es öffnet einen Raum, in dem Wandlung geschehen darf – eine Schwelle, an der wir uns selbst und die Welt neu erfahren können.“

Die Rückkehr zur schöpferischen Kraft

Wenn wir heute von Ritualen und Visionen sprechen, müssen wir sie aus der Beliebigkeit herausholen und ihre transformative Essenz wiederentdecken. Ein Ritual ist ein offener Raum der Wandlung, ein bewusster Schritt ins Unbekannte. Es ist wie eine leere Leinwand, bei der wir nicht wissen, was sich am Ende zeigen wird. Es geht darum, uns in das größere Ganze hineinzuweben und Menschen nicht in Abhängigkeit zu führen, sondern sie in ihre eigene Kraft zu entlassen.

In der Kunsttherapie werden diese Prinzipien lebendig. Jeder kreative Prozess kann zu einem rituellen Prozess werden, wenn er auf Wandlung ausgerichtet ist. Der Psychologe Paul Rebillot erkannte die rituelle Dimension des Theaters und inszenierte alte Mythen als therapeutischen Prozess für alle Teilnehmenden, um die Zuschauer aus ihrer passiven, konsumierenden Rolle zu befreien.

Indem wir die tiefere Bedeutung von Ritualen und Visionen wiederentdecken, verbinden wir uns erneut mit einer schöpferischen Kraft, die weit über das Persönliche hinausgeht. Wir erkennen, dass wahre Transformation nicht im Festhalten, sondern im Loslassen liegt – im Mut, sich dem Fluss der Wandlung anzuvertrauen und einer Schau zu folgen, die dem Wohl des Ganzen dient.

Vielleicht sehen wir uns bei einem nächsten Ritualkreis…

shine your light, spread love, stay wild

Lilian

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